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Die vollständigen Interviews

Hier lesen die vollständigen und sehr spannenden Interviews mit Andrea und Levin (Namen geändert). Die beiden erzählten für unseren Jahresbericht 2021 von Ihren Erfahrungen während der Corona-Pandemie. Die Interviews führte Nadja Belviso, www.wortwal.ch.
 

«In der Schule wurden Ängste belächelt»

Andrea besuchte noch das Gymnasium, als die Pandemie ausbrach. Während des Lockdowns litt sie unter dem Alleinsein, danach unter ihren Ängsten vor der Gefahr durch Corona. Heute ist die 19-Jährige Praktikantin in einem Kindergarten und hofft, im Sommer ihr Studium beginnen zu können.

Wenn du dich an die Zeit erinnerst, als Sars-Cov-2 die Schweiz erreichte: Welche Veränderungen waren damals besonders einschneidend für dich?

Ich war im letzten Schuljahr. Der Lockdown war krass, weil alle positiven Aspekte der Schule wegfielen: das gemeinsame Singen am Morgen, die Theaterproben, das Schullager, der Kontakt mit jenen Mitschülerinnen und Mitschülern, die nicht zum engsten Freundeskreis gehörten. Schnell wusste man, welche Lehrpersonen die Präsenz beim Online-Unterricht kontrollierten, und als klar wurde, dass die Noten während des Lockdowns nicht zählten, drehten viele den Ton einfach ab. Man versuchte nur noch, die letzten Monate der Schule hinter sich zu bringen. Es gab Tage, da fühlte ich mich schon nicht mehr als Schülerin.

Wie hat sich dieser mangelnde Kontakt auf deinen Freundeskreis ausgewirkt?

Aktivitäten wie Ausgang oder gemeinsame Abende bei Freunden fielen weg. Selbst draussen konnten wir uns aufgrund der Massnahmen in der früheren Zusammensetzung nicht mehr treffen, denn wir waren eine Gruppe von ca. 10 Leuten gewesen. Die Gruppe zerfiel, wenige Freundschaften blieben eng. Dafür kam ich im Lockdown manchen Leuten auch näher.

Hat sich die Stimmung in der Familie verändert?

Der Lockdown war für uns alle eine grosse Herausforderung. Es gab mehr Spannungen. Andererseits hatten wir das Glück, dass meine beiden Eltern in Einzelbüros arbeiteten und deshalb nicht zu Hause bleiben mussten. Mit der Zeit gewöhnten wir uns an die Situation und entdeckten sogar positive Begleiterscheinungen: Wir waren gezwungen, uns miteinander auseinanderzusetzen, und wir begannen, Dinge anzusprechen, die uns störten.

Was hat dich über die ganze Zeit hinweg gesehen am meisten belastet?

Das viele Alleinsein. Jede Begegnung war mit Gefahr verbunden und ich habe mir jede Verabredung zweimal überlegt: Lohnt sich das Risiko? Ist diese Beziehung es wert?  Meine sozialen Kompetenzen waren schon vorher nicht gut, jetzt sind sie katastrophal. Wie bei vielen Menschen, die anfällig auf Ängste sind, haben sich auch meine Ängste durch die Pandemie massiv verstärkt. Im Lockdown war es noch möglich, allem aus dem Weg zu gehen, aber nach der Öffnung konnte ich nicht mehr ausweichen und war auch mit Menschen konfrontiert, die das alles viel weniger ernst nahmen als ich.

Wie ist das jetzt im Praktikum?

Dort wurde es noch heftiger. Während es in meinem engen Umfeld bis zu diesem Zeitpunkt nur ähnlich denkende Menschen gab, die auch geimpft waren, traf ich im Praktikum plötzlich auf Andersdenkende. Anfangs gab es einige Konflikte deswegen, es machte mich auch wütend. Aber mit der Zeit lernte ich die Menschen kennen und konnte ihre Sichtweise besser akzeptieren.

Hat die Pandemie deine berufliche Perspektive verändert?

Ich will Psychologie studieren und hatte im Sinn, dafür in eine andere Stadt zu ziehen. Als mir klar wurde, dass Präsenzunterricht erforderlich ist, verschob ich das Studium auf dieses Jahr. 

Konntest du bei dir und Gleichaltrigen einen veränderten Medienkonsum feststellen?

Wenn man die ganze Zeit zu Hause sitzt, sucht man online Ablenkung. Wenn ich das Gefühl bekam, es werde zu viel, dann löschte ich die Sozialen Medien, aber dadurch verstärkte sich mein Konsum anderer Medien. Irgendwann wurde mir das reine Konsumieren langweilig, dann schwappte die ganze Aufmerksamkeit wieder zu den Sozialen Medien. Die Auswirkungen sind heftig. Meine Konzentrationsschwäche hat sich deutlich verstärkt. Trotzdem würde ich die Beschäftigung mit Computer und Smartphone nicht verteufeln. Ich war schon vorher politisch interessiert, da ich aber aus Selbstschutz zeitweise keine Zeitungen mehr las, informierte ich mich online über das politische Geschehen. Da gibt es natürlich viele und unterschiedliche Quellen, das war spannend.

Hat deine Gesundheit unter der Pandemie gelitten?

Mein psychischer Zustand hat sich am Anfang rapide verschlechtert, mit der Zeit wurde es aber wieder besser. Ich hatte das Glück, wegen meiner Ängste bereits vorher im Samowar in psychologischer Beratung gewesen zu sein, weshalb ich nicht wie andere monatelang auf einen Therapieplatz warten musste.

Welche gesundheitlichen Veränderungen konntest du bei Gleichaltrigen beobachten?

Das grosse Problem für Jugendliche ist, dass die hohen Inzidenzen mit den Wintermonaten zusammenfallen. Man kann nirgendwo hin, alle sitzen zu Hause, fast allen geht es schlecht. Mein Eindruck ist aber auch, dass die Leute ehrlicher über ihr Befinden reden, man also auch deshalb mehr von jenen hört, denen es schlecht geht.

Was hat dir geholfen, die Belastungen zu überstehen?

Ich habe während des Lockdowns das Malen und Töpfern für mich entdeckt, das hat mir viel gebracht. Auch mit dem Joggen habe ich angefangen. Ich merkte, dass es mir guttat, wenn ich meine sozialen Kontakte pflegte, auch wenn ich mich dazu zwingen musste. Unter dem Strich wäre die gesundheitliche Belastung grösser gewesen, wenn ich die Gefahr nicht irgendwann akzeptiert hätte.

Gab es auch positive Erfahrungen im Zusammenhang mit Corona?

Am Anfang war viel Solidarität spürbar, die Menschen waren fürsorglich und unterstützten sich gegenseitig. Beziehungen bekamen eine neue Qualität, man fühlte sich verbunden.

Hast du dich durch die Erwachsenen in deinem Umfeld unterstützt gefühlt?

In der Schule war die psychische Gesundheit kaum ein Thema. Ich erlebte wenig Verständnis für Ängste; man wurde eher belächelt. Das Motto schien: Es ist nun einmal so, gewöhn dich dran. Meine Eltern empfand ich beim Thema Corona unterstützend, aber die Beziehung ist unabhängig davon durchmischt. Die Arbeit von Fachpersonen empfand ich als hilfreich, doch viele andere Jugendliche hatten, anders als ich, noch keinen Therapieplatz und mussten lange darauf warten.

 

«Alle versuchten, sich irgendwie durchzuwursteln»

Durch die Pandemie verschärften sich bei Levin die Konflikte zu Hause, sein Alltag wurde eintönig und der Medienkonsum stieg. Doch es gab für den 17-jährigen Polygrafie-Lehrling auch positive Aspekte: Er trennte sich von Freunden, die ihm nicht guttaten und hatte Zeit für sorgfältige Bewerbungen.

Inwiefern hat Corona deinen Alltag als Schüler verändert?

Als Corona kam, wurden vor der Schule Waschbecken aufgebaut, wo wir uns die Hände waschen mussten, bevor wir das Schulhaus betreten durften. Das wurde von einem Lehrer überprüft. Als der Lockdown verhängt wurde, fand der Unterricht digital statt. Die Anwesenheit wurde kontrolliert, das heisst wir mussten die Kamera einschalten. Einmal pro Woche rief der Lehrer alle Schülerinnen und Schüler einzeln an, um zu fragen, wie es geht und ob mit dem Schulstoff alles klar sei. Obwohl alles so klar strukturiert war, veränderte sich mein Schlafrhythmus: Der Schulweg fiel weg, man konnte direkt vom Bett vor den Bildschirm wechseln; deshalb blieb ich abends oft lange wach.

Du standst ja kurz vor Ende deiner Schulzeit …

Ja, ich hatte nur noch wenige Monate vor mir. Der Lockdown veränderte die Stimmung in der Klasse. Spontane Gespräche waren ja im Lockdown nicht mehr möglich und private Calls fanden nur mit wenigen Leuten statt. Der Abschluss war anders als geplant, unsere Klassenreise wurde gestrichen.

Veränderte der Lockdown das Zusammenleben in der Familie?

Wir hockten die ganze Zeit aufeinander, hatten aber gleichzeitig wenig Austausch. Man setzte sich ja nach dem Aufstehen direkt vor den Bildschirm. Auch mein kleiner Bruder war die ganze Zeit zu Hause, manchmal platze er mitten im Unterricht in mein Zimmer, dann musste ich die Kamera ausschalten und ihn zusammenscheissen. Die Stimmung war hitzig. Meine Mutter und ich hatten schon vorher Schwierigkeiten, während des Lockdowns verschärften sie sich weiter. Hätten wir nicht die Beratungsgespräche im Samowar gehabt, wäre die Situation eskaliert.

Worum geht es in euren Konflikten?

Hauptsächlich um Medienkonsum. Wobei sich dieses Problem inzwischen aufgelöst hat. Ich bin ja jetzt in der Lehre und brauche das Handy ohnehin. Irgendwann sah sie keinen Sinn mehr darin, deswegen zu streiten.

Während des Lockdowns hat sich dieses Thema aber vermutlich zunächst verschärft …

Ja, ich war viel bei Netflix, Tiktok und Youtube. Wenn ich nicht wusste, was ich mit meiner Zeit anfangen sollte, war das Handy halt schnell zur Hand. Ich empfand diese Entwicklung aber selber als negativ. Ich zog mich aus der echten Welt zurück, die Zeit rauschte an mir vorbei, und am Abend war ich frustriert, weil ich nichts erlebt und nichts getan hatte. Ich wurde total unproduktiv.

Spürtest du auch gesundheitliche Auswirkungen?

Ja, ich hatte oft Kopfschmerzen und war frustriert. Meine Konzentration wurde schlecht. Es gab Momente, da fühlte ich nur noch Leere in mir. Selbst meinen Vater und meine Grosseltern besuchte ich kaum mehr.

Was hat dich denn am meisten belastet?

Einerseits der fehlende Abstand zu meiner Familie, andererseits der fehlende Kontakt zu anderen Menschen. Ich vermisste auch das Unihockey, Sport allgemein. Da meine Mutter Risikopatientin ist, durfte ich nicht mehr raus, es gab keine Abwechslung in meinem Alltag. Ich wollte sie zwar schützen, aber gleichzeitig war ich deshalb oft wütend auf sie.

Konntest du bei deinen Freunden und Kolleginnen ähnliche Probleme beobachten?

Ja, ich glaube, die meisten hatten psychische Probleme oder Schwierigkeiten zu Hause. Die einen haben Eltern, die alle Massnahmen streng einhielten, andere solche, die Verschwörungstheorien vertreten. Manche hatten auch selbst grosse Angst.

Hat sich auch dein Freundeskreis oder die Art deiner Freundschaften verändert?

Im Lockdown hatte ich viel Zeit mit mir allein. Das gab mir Gelegenheit, über mein Umfeld nachzudenken. Da merkte ich, dass die Kollegen, mit denen ich vor allem kiffte, eigentlich nicht zu mir passten. Heute habe ich mit praktisch niemandem aus der Sek noch Kontakt.

Du bist jetzt in der Lehre …

Der Weg dahin war nicht ganz einfach. Ich war noch intensiv auf der Suche nach einer Lehrstelle, als Corona die Schweiz erreichte. Leider wurde es unmöglich, schnuppern zu gehen. Dafür hatte ich im Lockdown mehr Zeit, die Bewerbungen sauber und sorgfältig zu machen, und meine Mutter konnte mir dabei helfen. Das erste Lehrjahr war seltsam, weil ich vier Schultage und nur einen Arbeitstag hatte. Der Unterricht fand online statt. Da lernte ich deutlich weniger, konzentrierte mich schlecht und fand mich öfter in Chats mit Kollegen wieder.

Was hat dir geholfen, die Herausforderungen und Belastungen zu überstehen?

Ich versuchte, allem aus dem Weg zu gehen, was zu Konflikten führen könnte. Mit dem Psychologen im Samowar hatten wir gute Gespräche, die uns als Familie sehr halfen. Ich versuchte, das Handy zu meiden und stattdessen Dinge zu tun, die mir Freude machen. Zum Beispiel fing ich an, zu Hause zu trainieren.

Hast du mit deinen Freunden über deine Probleme geredet?

Nicht gross. Uns war allen klar, dass jeder irgendwie Probleme hat, aber jeder versuchte sich halt irgendwie durchzuwursteln.

Wie beurteilst du den gesellschaftlichen Umgang mit den Herausforderungen rund um die Pandemie?

Ich stelle fest, dass die Höflichkeit bei vielen flöten gegangen ist, es gibt keine Diskussionskultur mehr. Schlimm finde ich auch, dass manche Erwachsene Jugendlichen für alles die Schuld geben, gleichzeitig aber gerade unter Erwachsenen einige aus Trotz keine Maske tragen. Einmal musste ich zum Zug rennen, ich schwitzte und atmete, deshalb erlaubte ich mir, die Maske für wenige Minuten unter der Nase zu tragen. Sonst hätte ich den ganzen Tag mit einer verschwitzten Maske rumlaufen müssen. Prompt schimpfte eine ältere Dame minutenlang auf mich ein, obwohl in den Abteilen rundherum mehrere Erwachsene ganz ohne Maske sassen.

Fühlten du dich von Erwachsenen in deinem Umfeld eher unterstützt oder allein gelassen?

Alle machten einen guten Job. In der Schule durften wir auch anrufen, wenn wir private Probleme hatten, was ich aber nicht tat. Meine Grosseltern hatten keine Angst vor dem Virus und waren für mich da. Und der Jugendberater hat mir neben den Familiensitzungen auch Einzelgespräche angeboten.

 

Andrea (19) und Levin (17) berichten, wie sie die Pandemie erlebten, worunter sie gelitten haben und was ihnen gelholfen hat.